© GMS/Jörg Carstensen Kolumne „Der Klassiker“ (Folge 40): Melodien für Millionen
Sakrileg! Das Largo aus Dvoraks 9. Sinfonie mit Schlagerversen zu betexten! Aber es gibt auch positive Beispiele dafür, wie Klassik zu popkulturellen Ehren kommen kann.
Eine Kolumne von
Ich weiß noch genau, wie entrüstet ich war: In einer Samstagabend-Show im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, vielleicht „Wetten, dass“, erklang in den 1990er Jahren die sehnsuchtsvoll-beseelte Melodie aus dem langsamen Satz von Antonin Dvoraks „Sinfonie aus der Neuen Welt“, gespielt vom James-Last-Orchester – und versehen mit einem unsagbar schnulzigen Text: „Deine Hände streicheln mein Gesicht, unsere Liebe währet ewiglich.“
Mal abgesehen von dem ungelenken Reim, als junger Klassikfan konnte ich es nicht fassen, dass hier eines der nobelsten Themen des romantischen Repertoires zum Schlager degradiert wurde. Brutal erschien mir das, der skrupellose Versuch, aus der hehren Kunst, die ich gerade erst für mich entdeckt hatte, maximalen Profit zu genereieren.
Walter Murphys Disco-Klassiker
Ja, so funktioniert eben unser Wirtschaftssystem, musste ich später lernen. Erfolgreiche Romane wurden in der Kulturgeschichte schon immer als Theaterstücke zweitverwertet – und danach oft noch für Opernlibretti zurechtgestutzt. Die beliebtesten Arien daraus wiederum erschienen in leichten bis mittelschweren Arrangements, um am heimischen Piano abgenudelt wurden, von Leierkästen, bei Kurkonzerten und in Vergnügungsetablissements aller Art. Melodien für Millionen eben.
Aber es gibt ja auch gelungenen Beispiele der populärkulturellen Aneignung: In den 1970ern schnappte sich Walter Murphy Klassiker, definierte mit genuinem Gespür ihr Hit-Potenzial – und machte dann fantastische Disco-Kracher daraus. Seine Verhackstückung von Beethovens Fünfter schaffte es sogar in den Soundtrack von „Saturday Night Fever“. Grandios groovy sind auch „Russian Dressing“ (Inspirationsquelle: Tschaikowskys 1. Klavierkonzert), die Dancefloornummer zu Gershwins „Rhapsody in blue“ oder „It ain’t necessarily so“ aus der Oper „Porgy and Bess“.
Mit pädagogischem Anspruch kam 1960 das Album „Classic with a chaser“ daher, in Deutschland unter dem Titel „Klassik für Frack und Petticoat“ veröffentlicht: Erst spielte das Orchester Werner Müller die Originale, dann sang Caterina Valente auf die süßeste Melodie aus Rachmaninows 2. Klavierkonzert „Full moon and empty arms“ oder auf Borodins Polowetzer Tänze „I‘m a stranger in paradise“. Klingende Volksbildung im Easy-Listening-Arrangement. Das geht in Ordnung.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de