Lob des Anti-Helden: Der deutsch-amerikanische Komparatist Victor Brombert wird 100 Jahre alt

Lob des Anti-Helden: Der deutsch-amerikanische Komparatist Victor Brombert wird 100 Jahre alt

© imago images/Mary Evans

Lob des Anti-Helden: Der deutsch-amerikanische Komparatist Victor Brombert wird 100 Jahre alt

In den USA machte der gebürtige Berliner Jude und einstige „Ritchie Boy“ akademische Karriere.

Von

  • Richard Schroetter
  • Gabriele Helen Killert

Das war schon ein Ereignis, als am 4. September 1945 im zerbombten Berlin erstmals nach zwölf Jahren Naziherrschaft wieder der „Fidelio“ zu hören war. Im Theater des Westens war auch ein junger jüdischer US-Soldat und Opernliebhaber dabei, der in dieser Stadt geboren worden war: Victor Brombert.

Als einer der „Ritchie Boys“, also als Absolvent des Military Intelligence Training Center in Maryland, war er zurückgekehrt, nachdem er einen Parcours der Schrecken hinter sich hatte. Die Landung in Omaha Beach, die Schlacht im Hürtgenwald und die für die Amerikaner größte und mit über 20.000 Toten verlustreichste Landschlacht in den Ardennen. Als der Chor „Oh Freiheit kehrest du zurück“ intonierte, kamen dem 21-jährigen „Befreier“ die Tränen.

Bromberts frühe Lebensgeschichte erinnert in manchem an die Vladimir Nabokovs (mit dem er entfernt verwandt ist): dieselbe große Fluchtlinie Russland-Deutschland-Frankreich-USA. Bromberts Familie, assimilierte Moskauer Juden und Kosmopoliten, ließ sich nach der Revolution 1917 mit dem Status „geduldete Ausländer“ in Leipzig nieder, wo der Vater einen Pelzgroßhandel betrieb und Victor mit deutschem Kindermädchen und russischer Großmutter mehrsprachig aufwuchs.

1933 floh die Familie zunächst nach Paris, wo er eine unbeschwerte Schulzeit verbrachte. Das Glück, in der französischen Kultur und Sprache endlich so etwas wie eine Heimat gefunden zu haben, war ihm nicht lange vergönnt. Nach dem Einmarsch der Deutschen war die Familie 1941 wieder auf der Flucht, um nach einer dramatischen Irrfahrt quer durch Frankreich im letzten Moment auf einem Bananenfrachter in die USA zu entkommen.

„Nichts in meinen frühen Jahren wies darauf hin, dass mich das Schicksal zum Literaturwissenschaftler bestimmen würde », schreibt der in fünf Sprachen beheimatete Komparatist und langjährige Inhaber renommierter Romanistik-Lehrstühle in Yale und Princeton rückblickend. Immerhin regte sich schon früh in ihm das wichtigste Talent: die Liebe zur Dichtung.

Das Interesse an Autoren, für die – etwa Stendhal oder Flaubert – Sätze  die wahren Abenteuer des Lebens sind. Nützen und erfreuen soll die Literatur; Victor Brombert würde das Horaz-Wort aber wohl zugunsten des Erfreuens herumdrehen. Vor aller Gelehrsamkeit liegt bei ihm, was einer seiner großen Vorgänger, Erich Auerbach „das spontane Entzücken an schönen Dingen, echtem Gefühl und glücklich geformten Gedanken“ nannte.

Mit diesen Attributen eines pädagogischen Eros reich gesegnet, widmete sich der Verfechter des close reading in zahlreichen Studien – darunter „The Intellectual Hero“, „The Romantic Prison“, „The Hidden Reader“, „In Praise of Antiheroes“ – den Werken der großen europäischen Romanciers. Soeben erschien in der University of Chicago Press zu seinem 100. Geburtstag am 11. November die Aufsatzsammlung „The Pensive Citadel“.

Krönung und geheimer Fluchtpunkt seines langen Forscherlebens ist sein 2002 erschienenes Erinnerungsbuch „Trains of Thought“. Das eigene Leben diesmal als Fiktion: Wie wurde ich der, der ich bin? Die Montaigne-Frage schwebt über dem Text, einer geglückten Verbindung von Entwicklungsroman und Zeitgeschichte – leider noch nicht ins Deutsche übersetzt.

Dankenswerterweise hat die Zeitschrift „Sinn und Form“ ein Kapitel daraus und diverse seiner Essays veröffentlicht. Nach über einem halben Jahrhundert konnte man Victor Brombert 2015 im Berliner Literaturhaus erleben. Vor einer großen Zuhörerschaft erzählte er vom Glück der Literatur und vor allem dem Glück „of the intense awareness of being alive“.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de