Igor Levit im Interview: „Ich stelle mir zurzeit sehr bittere Fragen über dieses Land“

Igor Levit im Interview: „Ich stelle mir zurzeit sehr bittere Fragen über dieses Land“

© imago images/Future Image

Igor Levit im Interview: „Ich stelle mir zurzeit sehr bittere Fragen über dieses Land“

Der Pianist Igor Levit hat genug: vom mangelnden Widerspruch gegen Antisemitismus – und von der pauschalen Verurteilung von Muslimen. Über Debatten und den Punkt, an dem er das Gespräch verlässt.

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Herr Levit, vergangene Woche nahmen Sie in Berlin an einer Demonstration vor der Humboldt-Universität teil. Die Anwesenden wollten so ihre Unterstützung für alle jüdischen Studierenden bekunden – es sollte ein Zeichen gegen den anwachsenden Antisemitismus in Deutschland sein. Waren Sie zufrieden?
Es kamen gerade einmal 100 Menschen. Mehrere Redner sagten, wir müssten daran arbeiten, mehr zu werden. Was natürlich stimmt. Aber mir fehlt da doch die Frage: Warum sind wir so wenige? Weshalb zeigt sich die sogenannte Mitte der Gesellschaft nicht? Wo seid Ihr denn? Ich erwische mich dabei, dass ich mir zurzeit sehr bittere Fragen über dieses Land stelle.

Wie haben Sie die Reaktionen in Deutschland auf die Terrorangriffe der Hamas am 7. Oktober erlebt?
Am Tag selbst war ich noch in Berlin, musste dann nach Los Angeles fliegen. Von dort bekam ich mit, wie in Deutschland Menschen auf die Straße gingen oder sich in den sozialen Netzwerken äußerten und im Grunde genommen zu mehr Massakern aufriefen. Das haben sie getan, während das Blut der Ermordeten noch warm war.

Einige dieser Menschen kenne ich. Einige der Menschen, die jetzt „From the River to the Sea, Palestine will be free“ skandieren oder andere dafür feiern, die kenne ich leider. Da ist vieles in mir zerbrochen. 

Was genau?
Eine Menge Vertrauen und das Gefühl dafür, wer meine Verbündeten sind. Ich habe mich immer stark gemacht für Menschen, die Opfer von Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit oder sonstigem Menschenhass waren. Nun muss ich erleben, dass einige von denen, denen ich mich jahrelang nahe fühlte, zum Thema Judenhass schweigen oder sich sogar denken: Vielleicht ist der ja begründet. Vielleicht ist da etwas dran.

Sie sprechen von einem Teil der Linken.
Nicht nur, aber auch. Ich spreche von einem komplett verdrehten, moralisch bankrotten Teil der progressiven Linken. Das ist die „Ja, aber“-Fraktion aus meiner Ecke. Mein Telefonbuch ist in den vergangenen Wochen kleiner geworden. Was aber nicht bedeutet, dass ich nicht weiterhin gegen sämtliche Formen von Menschenhass eintreten werde. Dieses Fundament ist bei mir zum Glück intakt geblieben.

Sind Ihnen auch Freundschaften zerbrochen?
Zum Glück nicht. Mein engster Freundeskreis hat nicht nur gehalten, er ist sogar enger geworden. Und ich meine hier auch Menschen, die einen ganz anderen Blickwinkel haben als ich. Doch was uns eint, ist die Anerkennung dessen, was am 7. Oktober geschah: ein Massaker an Juden.

Die ersten Wochen nach diesem Massaker haben Sie öffentlich geschwiegen. Jetzt beziehen Sie deutlich Position.
Ich war sprachlich ein Stück weit paralysiert. Ich war nicht in der Lage zu sprechen. Das bin ich teilweise heute noch nicht. Sie merken ja, wie ich gerade mit Ihnen rede: Ich stoppe manchmal zwischen den Sätzen. Das tue ich sonst eigentlich nicht. Außerdem hatte ich wie gesagt vieles von dem, woran ich glaubte, in den Tagen nach dem 7. Oktober verloren. Da wusste ich einfach nicht mehr, woran ich anknüpfen soll.

Widersprechen Sie denen, die Hass verbreiten. Das geht auch im Privaten, dazu braucht es keine öffentliche Plattform.

Igor Levit

Am 27. November findet im Berliner Ensemble ein Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus statt, das Sie organisiert haben. Es war nach viereinhalb Minuten ausverkauft. Kommt solcher Zuspruch bei Ihnen an?
Dafür bin ich genauso dankbar wie über die Tatsache, dass Künstler aus unterschiedlichen Genres direkt zugesagt haben. Und dass ich Michel Friedman kenne, über den ich wiederum Oliver Reese, den Intendanten des Berliner Ensembles, kenne. Ich habe Oliver angerufen und gesagt: „Niemand macht etwas! Lass uns etwas machen!“ Und er war sofort dabei. Dies alles freut mich sehr.

Aber ich sehe auch die andere Seite. Ich frage mich, warum es in einer großen Stadt wie Berlin zwei Juden braucht, also Michel und mich, um so etwas anzustoßen. Warum müssen wir Juden das machen? Ihr müsst doch merken, dass es hier um die demokratische Gesellschaft als Ganzes geht. Woran sie glaubt und wofür sie zu kämpfen bereit ist. Ich erhalte in diesen Tagen unglaublich viele wundervolle Briefe von Menschen, die ich nicht kenne. Die meisten enden mit: Was kann ich als Einzelner schon tun? Na, ehrlich gesagt: eine ganze Menge.

Igor Levit im Interview: „Ich stelle mir zurzeit sehr bittere Fragen über dieses Land“

Streiter für die Menschlichkeit: Igor Levit bei der Aktion „Flügel statt Flügel“ in Anspielung auf die AfD vor dem Brandenburger Landtag (Archivbild).

© Andreas Klaer

Und zwar?
Zeigen Sie Anteilnahme. Widersprechen Sie denen, die Hass verbreiten. Das geht auch im Privaten, dazu braucht es keine öffentliche Plattform. Engagieren Sie sich und bemühen Sie sich. Seien Sie jetzt da.

Ihr Benefizkonzert soll nicht das Einzige bleiben.
Es wird das erste Konzert von sehr vielen sein, nicht bloß in Berlin. Diese Form der künstlerischen Intervention werde ich ab Anfang kommenden Jahres an so viele Orte wie möglich tragen. Und wenn ich das ganze Land einmal durchreisen muss. Sie sehen, ich resigniere nicht. Ganz im Gegenteil: Ich habe einen ganzen Katalog von Dingen vor Augen, die ich tun werde. Das auch gleich zur Frage, ob ich schon so weit bin, Deutschland zu verlassen: selbstverständlich nicht. Deutschland ist immer noch mein Zuhause. Aber mein Zuhause macht es mir grad sehr, sehr schwer.

Diskutieren Sie noch mit Menschen, die „From the River to the Sea, Palestine will be free“ skandieren, also ein Palästina ohne Israel wollen?
Ich diskutiere weder mit Menschen, die das Existenzrecht Israels anzweifeln, noch mit denen, die über das Leid der einen Seite sprechen wollen, ohne das der anderen Seite anzuerkennen. Ich diskutiere aber auch nicht mit Leuten, die aus mir in Deutschland jetzt einen Israeli machen wollen. Oder wenn mein Gegenüber denkt, dass an dem „Gerücht über die Juden“ – so hat Adorno Antisemitismus definiert – irgendetwas dran sein könnte. Auch dann verlasse ich das Gespräch.

Igor Levit im Interview: „Ich stelle mir zurzeit sehr bittere Fragen über dieses Land“

„From the River to the Sea“: Die antisemitische Parole ist seit Anfang November in Deutschland verboten.

© dpa/Boris Roessler

Was ist mit denen, die „Ceasefire now“ fordern – den sofortigen Waffenstillstand?
Selbstverständlich hat Israel das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Wenn jetzt also jemand „Ceasefire now!“ ruft, möchte ich von ihm schon hören, wie sich Israel seiner Ansicht nach anschließend, nach einem Waffenstillstand, verteidigen soll. Wie soll das funktionieren? Und solange er mir dazu nichts sagt und auch kein einzelnes Wort über die Geiseln verliert, geschweige denn über das, was am 7. Oktober geschah, solange kann ich diese Person nicht ernst nehmen.

Vergangene Woche waren Sie in Israel. Was haben Sie dort gemacht?
Ich hatte dem Israel Philharmonic Orchestra geschrieben und gesagt: Ich möchte gern kommen. Sagt mir, was ich tun und wie ich helfen kann. Ich habe dann in einem Krankenhaus in Tel Aviv für Verletzte gespielt. Und mich mit Angehörigen von Entführten getroffen und auch für sie musiziert.

So lächerlich sich das vielleicht anhört, aber das ist eben das, was ich kann. Und natürlich haben mir die Angehörigen von ihrer schrecklichen Lage berichtet. Wie sehr sie ihre Kinder, Enkelkinder, Geschwister und Eltern vermissen. Und ich habe zugehört. Vielleicht ist es mir so gelungen, eine Sekunde lang Trost zu spenden. Ende Dezember werde ich wieder hinfliegen. Auch dort plane ich weitere Benefizkonzerte. Meine Besuche in Israel werden sich jetzt häufen.

Auf der Plattform X schrieben Sie aus Israel, dass Ihnen dort auch das Trauern leichter fällt.
Ich habe im Stadtbild von Tel Aviv zigtausende Plakate der Entführten gesehen, darunter ganz viele Baby- und Kinderfotos, und keines dieser Plakate lag am Boden. In Berlin gab es Tage, da musste ich von meiner Wohnung aus nur wenige Minuten spazieren, bevor ich das erste abgerissene Plakat sah.

Übrigens finde ich es bemerkenswert, mit welcher Klarheit und Schärfe meine Gesprächspartner in Israel über ihre eigene derzeitige Regierung reden. Von so einer Klarheit sind die Antisemiten auf deutschen Straßen weit entfernt. Denn der Unterschied ist, dass die Basis dieser Kritik die Anerkennung von Realitäten bleibt: nämlich, dass ein Massaker an Juden verübt wurde, dass hunderte Geiseln befreit werden müssen und dass die Bürger Israels Grenze an Grenze zu Terroristen leben, die sie auslöschen wollen.

Es gibt den Antisemitismus in Deutschland. Ob er von Steffi aus Berlin, von Heinrich aus Halle oder von Mohammed aus Essen kommt, ist dabei egal. 

Igor Levit

Fühlen Sie sich in Deutschland noch sicher?
Ich kriege Briefe von Juden, die sich genau das fragen: Ist es hier noch sicher für uns? Ich spreche auch mit Freunden, die Angst um sich und ihre Kinder haben. Ich kann diese Angst nachvollziehen, halte sie keineswegs für irrational. Aber ich persönlich empfinde sie nicht. Ich fühle mich in Deutschland genauso sicher oder unsicher wie in anderen Staaten. Und in mancher Hinsicht ist Deutschland derzeit ein besserer Ort: Szenen wie in London, wo Hunderttausende an antisemitischen Demonstrationen teilnehmen, gibt es hier keine. Und die Reaktionen der Politiker sind im Großen und Ganzen erfreulich.

An wen denken Sie?
Robert Habeck und Cem Özdemir gehören zu den Lichtblicken in diesen Wochen. Genauso wie ein Michael Roth, Kevin Kühnert, ein Hendrik Wüst oder Armin Laschet. Und natürlich Klaus Lederer. Ich selbst bin ja Mitglied der Grünen, aber ich sehe auch wunderbare Reaktionen von Mitgliedern der Jungen Union. Und von Liberalen. Das ist parteiübergreifend. Allerdings höre ich immer wieder Floskeln, die mich wütend machen.

Welche denn?
Zum Beispiel „Wir als Gesellschaft haben den Antisemitismus unterschätzt“. Da frage ich mich: Wer ist bitte mit „wir“ gemeint? Es gibt genug Menschen, mich eingeschlossen, die seit langem vor Antisemitismus warnen und diesen auch erlebt haben. Und die sich immer wieder anhören mussten: „Tut mir leid, da hast du wohl einen einzelnen Idioten getroffen, aber insgesamt ist die Lage doch nicht so schlimm.“

Was ist mit „Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland“?
Dieser Satz war schon immer hohl und wird auch immer hohl bleiben. Natürlich haben Antisemitismus, Rassismus und weitere Formen des Menschenhasses in Deutschland Platz. In jedem anderen Land übrigens auch. Und das wird auch so bleiben, das kriegen wir nicht wegpoliert. Also hört endlich auf, Minderheiten für blöd zu verkaufen. Es gibt den Antisemitismus in Deutschland. Ob er von Steffi aus Berlin, von Heinrich aus Halle oder von Mohammed aus Essen kommt, ist dabei egal. Dieser Satz ist das Papier nicht wert, auf dem er steht, und auch nicht den Sauerstoff, den es braucht, um ihn auszusprechen.

Die Bilder der judenfeindlichen Proteste in Neukölln haben eine Debatte über „importierten Antisemitismus“ befeuert. Wird damit vom urdeutschen Judenhass abgelenkt oder endlich ein drängendes Problem angegangen?
Solange die Begriffe stimmen, ist mir jede Debatte recht. Ich spreche nicht von den Deutschen, sondern zum Beispiel von Neonazis. Genauso spreche ich nicht von den Muslimen oder den Palästinensern, sondern von radikalen Islamisten. Antisemitismus lässt sich nicht mit Rassismus bekämpfen. Dabei verlieren alle, und dieses Spiel mache ich nicht mit. Sobald über ganze Menschengruppen geurteilt wird, bloß um eigene Ressentiments zu bestätigen, bin ich raus.

Wir sollten unsere Debatten also präzise, dann aber auch so hart und ehrlich wie möglich führen. Als Sigmar Gabriel 2009 SPD-Parteichef wurde, forderte er: „Wir müssen raus ins Leben, da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt.“ Das trifft auch hier zu. Man bekämpft keine Probleme, wenn man sich nicht dorthin traut, wo es wehtut.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de