Wunderkammern am Vorabend der Aufklärung: Eine Biografie des Universalgelehrten Athanasius Kircher

Wunderkammern am Vorabend der Aufklärung: Eine Biografie des Universalgelehrten Athanasius Kircher

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Wunderkammern am Vorabend der Aufklärung: Eine Biografie des Universalgelehrten Athanasius Kircher

Der Kulturhistoriker Andreas Bähr porträtiert den Jesuiten in seiner ganzen barocken Pracht.

Von Paul-Henri Campbell

Um das Jahr 1660 wendet in Mexiko-Stadt Schwester Juana Inés de la Cruz, eine Hieronymitennonne und Dichterin, mit fiebrigen Wangen die Blätter eines gewichtigen Folianten mit dem Titel „Iter Extaticum Coeleste“. Diese ekstatische Himmelsreise verfasste der an der Hochschule der Jesuiten, dem Collegio Romano zu Rom, lehrende Universalgelehrte Athanasius Kircher. Ein seltsamer Vogel, zwischen Demut und Manie, dessen Biografie tiefe Einblicke in das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft an der Schwelle zur Aufklärung schenkt.

1602 in Geisa/Röhn geboren, flieht Pater Athanasius durch die Wirren des dreißigjährigen Krieges über Paderborn, Köln, Koblenz, Heiligenstadt nach Würzburg, bis dort die Truppen des Löwen aus Mitternacht, Gustav II. Adolf von Schweden, einfallen und er sich schließlich nach Frankreich in Sicherheit bringt, nur um dort von Avignon nach Rom abberufen zu werden. In seiner Autobiografie wird er sein Leben später zu einer Reise voller Gefahren, Wirbel und Kniffligkeiten stilisieren, aus die ihn nicht so sehr seine eigene Beharrlichkeit und Klugheit, sondern der Glaube an die Himmelskönigin Maria retten.

Andreas Bährs Biografie „Athanasius Kircher. Ein Leben für die Entzifferung der Welt“ versucht ,das Leben dieses Jesuiten „jenseits von Verehrung und Verriss“ zu erzählen, „wie aus dem theaterbegeisterten Jugendlichen ein Jesuit und einer der bekanntesten – und umstrittensten – Universalgelehrten wurde.“ Die Lektüre macht es möglich, dem Pater zuzuschauen, wie er in seiner Welt, fast wie eine absurde Figur, immer wieder die Orientierung verliert, um diese neu zu gewinnen.

Bähr schenkt seinem Publikum neun Lebensgeschichten, die Kirchers Wirken umkreisen, sodass das Buch von einer leicht bekömmlichen enzyklopädischen Erzählweise getragen wird: Die Erzählungen über den Universalgelehrten zeigen den Jesuiten als einen, der versucht seine Welt zu „entziffern“, angetrieben von einem Willen, der alles Wissen zum Lebensbaum mit göttlicher Krone hierarchisieren will, bei allen richtigen Intuitionen das Wissen jedoch zum Labyrinth, gelegentlich sogar zum Irrgarten, werden lässt.

Als Kircher in Rom vorstellig wird, hat das Reich der Habsburger eine Ausdehnung vom Schwarzen Meer bis zum Pazifik. In der jesuitischen Wunderkammer, dem 1651 gegründeten Museum Kircherianum, gehen Objekte und Nachrichten aus allen Erdwinkel ein, inklusive einer Lieferung von 25 Pfund Schokolade, die der Bischof von Puebla de los Ángeles Francisco Ximénez schickt.

Andreas Bähr arbeitet mit einer reichen Palette: Einerseits beschäftigt sich Pater Atanasius mit Naturphilosophie und experimentiert mit Optik und Akustik, andererseits liefert er „empirisch“ fundierte Erklärungen für den Turmbau von Babel und dem Tiermanagement auf Noahs Arche.

Kircher interessiert sich für Muscheln, Meeresstrudel und dem süditalienischen Volkstanz der Tarantella. Er baut eine hydraulische Orgel und belebt nahe Tivoli den bis heute noc ältesten Marienwallfahrtsort der Christenheit. Er erfindet eine Kompositionsmaschine und eine kryptographische Geheimsprache zu militärischen Zwecken. Er entwickelt Verstärkersysteme und sprechende Statuen, die auch zum Abhören von öffentlichen Plätzen verwendet werden können. Kircher glaubt an die Existenz von Drachen, lehnt aber die Transmutationsalchemie, also, wie man unedle Metalle in Gold verwandelt, vehement ab. Sein Vater hatte in Fulda bereits einen Rabbiner angeheuert, um dem jungen Athanasius im Kolleg ein gutes Hebräisch beizubringen, in Speyer und Mainz kommt er den semitischen Sprachen näher und entwickelt eine Faszination für Hieroglyphen.

Andreas Bähr zieht den Vorhang zurück: eine Welt vor der schottischen Aufklärung, die zwar schon Newton und Kopernikus kannte, aber noch gegen sie agitierte. Auch die Schar von Zeitgenossen, die Pater Athanasius für einen Scharlatan halten (darunter René Descartes) lässt der Kulturhistoriker Bähr auftreten.

Er zeigt, wo Kircher mehr aus gutgläubiger Intuition Schlüsse zieht und fabuliert, wo der Jesuit eine seiner unzähligen Masken aufsetzt, um der Zensur zu entkommen oder sich in die Gunst eines Gönner schmeichelt, „wie Kircher – mal vermeintlich erfolgreich, mal erfolglos dem Sinnfreien Sinn zu geben versucht – und dass in der Sinnlosigkeit des Unterfangens ein eigener Sinn liegt.“ Während man verfolgt, wie Andres Bähr diesem barocken Katholiken beim Entziffern der Welt zuschaut, wird man ganz melancholisch, betrachtet man jene säkularisierende Tradition des Denkens, die sich konsequent vom Aberglauben reinigt, um schließlich eine entzauberte Welt auszubilden.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de