Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (190): Theater und Krieg spielen in Bautzen

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (190): Theater und Krieg spielen in Bautzen

© imago stock&people

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (190): Theater und Krieg spielen in Bautzen

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

3.2.2024

Am Bahnhofsausgang fällt mir auf, dass ich nicht wie gewohnt nach dem Handy greife, um auf Google Maps nachzusehen, wohin ich muss. Ich bin mir sicher, dass ich den Weg kenne  – und das passiert selten, wenn ich mich außerhalb von Berlin befinde.

Erstaunlich, denn noch vor zwei Jahren hätte ich behauptet, nie zuvor in Bautzen gewesen zu sein. Doch mittlerweile bin ich hier regelmäßig anzutreffen  – und auch wenn es seltsam klingen mag, ist das eine der vielen unwahrscheinlichen Folgen des Krieges, den Russland in meiner Heimat führt. Die Kinder, mit denen ich im Jahr 2020 im Donbass im Rahmen des Projekts Misto To Go gearbeitet habe, mussten nach dem Beginn der groß angelegten Invasion mit ihren Familien aus ihren Städten fliehen  – und einige von ihnen landeten ausgerechnet in oder in der Nähe von Bautzen.

Für sie ist das soziotheatrale Thespis Zentrum eine regelrechte Oase  – weit mehr als ein bloßer Treffpunkt, sondern auch ein Ort zum Feiern und Lernen und nicht zuletzt ein Theater. Und heute bin ich hier, um mir die Vorstellung „Die Kinderszenen“ anzuschauen.

Aber warum sind die Straßen so menschenleer? Es ist erst 16 Uhr, für winterliche Verhältnisse relativ mild, mit plus 10 Grad, und dazu noch ein Samstag. Vielleicht liegt es daran, dass der Himmel trüb ist und es gelegentlich nieselt.

Die massiven grauen Wolken habe ich den gesamten Weg nach Bautzen aus dem Zugfenster betrachtet und gehofft, dass es heute in Berlin nicht regnet, oder zumindest nicht während der Demonstration am Reichstag, zu der ich sicherlich gegangen wäre, wenn ich nicht weggefahren wäre.

Das Bürgerbüro der AfD

Ich bemerke, dass ich mich überschätzt habe und in die falsche Straße eingebogen bin – und plötzlich stehe ich vor dem Bürgerbüro der AfD. Das ist kein großer Umweg, und das Thespis liegt gleich um die Ecke. Aber da ich nun einmal hier bin, nehme ich mir die Gelegenheit, um die Plakate und Gegenstände im Schaufenster anzusehen.

Ein Grabkreuz mit dem Wort „Heimat“ drauf, ein großes „AfD – Politik für Deutschland“ Banner, die Flyer mit dem Aufruf, die Heimat zurück zu holen, ein schicker Bildschirm mit wechselnden Parolen  – „Neue Asylheime? Wir haben keinen Platz!“, „Illegale Migranten sind ausnahmslos abzuweisen“.

Montagsdemo in Bautzen

Während ich zum Thespis Zentrum laufe, frage ich mich, ob auch meine ukrainischen Freunde hier entlang kommen und ob ihr Deutsch bereits ausreicht, um zu verstehen, was hier steht. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag in Bautzen, als ich nach der Theaterprobe auf dem Weg zur Pension auf die Montagsdemo stieß.

Wie muss es sich anfühlen, aus der von der russischen Artillerie zerstörten Heimat zu fliehen und dann 2000 Kilometer entfernt an einem Ort anzukommen, wo die Nachbarn montags mit Fahnen und Kreuzen durch die Stadt marschieren?

Albina rappt so toll

Kaum bin ich über die Schwelle von Thespis, treten Olga und Albina Bakukha ein. Wir umarmen uns herzlich, obwohl sie vom Regen völlig durchnässt sind.

Im Herbst 2020 nahm Albina, damals noch dreizehn Jahre alt, aktiv an den Aufnahmen unseres Donbass-Albums teil. In einigen Liedern hat sie so toll gerappt, dass ich sie mir gut als Vollzeit-Rapperin vorstellen könnte. Ihre Mutter Olga unterrichtete an der Schule in Mykolajiwka, wo wir proben durften. Noch im Dezember 2021 saß ich beim Abendessen im Haus der Familie Bakukha, und Olga zeigte mir stolz Videos von der Theateraufführung, die sie mit ihren Schülern inszenierte.

Während Albina eine Szene vor der Vorstellung noch schnell probt, berichtet mir Olga beim Tee in der Küche von den Telefonaten mit ihren Verwandten, die in Mykolajiwka geblieben sind. In den letzten Wochen hat sich der Beschuss verschlimmert, doch es scheint, dass das eigentliche Ziel der Russen wohl Bakhmut ist, denn die Raketen fliegen über Mykolajiwka hinweg, ohne dort zu landen.

Der Keller des Hauses, in dem die Familie sich 2022 wochenlang versteckte, ist einer der Schauplätze für die heutige Inszenierung. Dort treffen sich Albina, die sich selbst spielt, mit Anne Frank und Helga Goebbels  – und obwohl diese Konstellation äußerst ungewöhnlich erscheinen mag, wirkt sie in dieser tollen Inszenierung unter der Regie von Olga Bakukha und Georg Genoux, basierend auf dem Text von Yana und Den Humennyis, überraschend natürlich.

Zur Startseite

  • Krieg in der Ukraine
  • Ukrainisches Kriegstagebuch 

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de