„Antakya gibt es nicht mehr“: Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien wird in Berlin der Opfer gedacht

„Antakya gibt es nicht mehr“: Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien wird in Berlin der Opfer gedacht

© Susanne Güsten

„Antakya gibt es nicht mehr“: Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien wird in Berlin der Opfer gedacht

Mindestens 60.000 Menschen starben vor einem Jahr bei dem Erdbeben in der Türkei und Syrien. Viele Menschen in Berlin haben Verwandte und Freunde verloren.

Von

Als vergangenes Jahr in der Türkei und Syrien die Erde bebte, wurde auch die Welt vieler Menschen in Berlin erschüttert. „Ich habe voller Panik meine Verwandten angerufen“, sagt Sümeyye Kılıçaslan-Khan von der Deutschen Islam Akademie. Sie steht auf einer Bühne, die dekoriert ist mit Kerzen und Rosen. Die Menschen im Publikum nicken zustimmend, einige von ihnen haben Tränen in den Augen. Sie kennen diesen Moment aus eigenen Erinnerungen.

An die 100 Menschen haben sich am Montagabend im Theater 28 in Wedding getroffen, um den Opfern des Erdbebens zu gedenken, bei dem vergangenes Jahr mindestens 60.000 Menschen starben. „Alle hier haben jemanden verloren“, sagt Hatice Selçuk vom Türkisch-Deutschen Frauenverband, der die Veranstaltung organisiert hat.

Viele der Gäste stammen aus der Region Hatay, am südöstlichen Rand der Türkei oder haben Familie und Freunde dort. Die Provinz wurde im Februar 2023 besonders hart getroffen, ihre Hauptstadt Antakya fast vollkommen zerstört.

„Antakya gibt es nicht mehr“: Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien wird in Berlin der Opfer gedacht

© Marlon Saadi

Einst als Antiochia bekannt, war sie neben Rom und Alexandria eine der größten Städte der Antike. Eine Stadt, in der sich die vielfältige Geschichte des Mittelmeerraums widerspiegelte. „Es war uns wichtig, dass wir eine multireligiöse Veranstaltung anbieten, die alle Bevölkerungsteile der Stadt abbildet“, betont Selçuk. Die Bevölkerung Antakyas sei wie ein Mosaik gewesen, sagt Hanna Haikal, Bischof der antiochenisch-orthodoxen Kirche. „Je bunter, umso schöner.“ Isa Uray ist 70 Jahre alt und heute aus Steglitz zur Veranstaltung gekommen. „Wir alle spüren die Trauer immer noch in unserem Herzen. Als ich im Sommer in der Türkei war, konnte ich nicht nach Antakya fahren. Ich wollte es so in Erinnerung behalten, wie ich es kenne.“

Yonca Makowsky erinnert sich noch an den Moment, als sie einen Tag nach dem Erdbeben in Antakya ankam. „Die Menschen standen um brennende Müllhaufen. Alles hat gefroren, geschrien, geweint.“ Die 46-Jährige ist in Antakya zur Schule gegangen. Sie war zum Zeitpunkt des Erdbebens in Ankara, hat kurz entschlossen das Auto vollgepackt und ist in die Stadt ihrer Kindheit gefahren. „Wir haben die Schreie nicht mehr ertragen. Wir haben uns nicht mehr getraut, in die Seitenstraßen zu blicken aus Angst, dort auf Menschen zu treffen. Wir waren nur eine unnötige Hoffnung für sie“, beschreibt sie die Verzweiflung, die sie dort erlebte.

Die Hilfsbereitschaft der Menschen in Berlin sei dann ein Lichtblick für sie gewesen. „Die türkische Gemeinde stand zusammen, wie sie es sonst nie tut“, sagt Makowsky. Auch Hatice Selçuk vom Türkisch-Deutschen Frauenverband erinnert sich noch daran, wie letztes Jahr alle mitangepackt hätten: „Wir haben sofort ein Netzwerk aufgebaut und Lastwagen nach Lastwagen in die Türkei geschickt.“

Im Nebenraum der Veranstaltung ist eine Ausstellung aufgebaut. Burak Genç, 21 Jahre, zeigt dort Fotos seiner Familie. „Diese Bilder wurden im zerstörten Haus meiner Großmutter gefunden, die bei dem Erdbeben starb“, erklärt Genç. Teilweise ist die Tragik hinter den Bildern nur schwer auszuhalten. Die Cousine von Genç, mit ihrer neugeborenen Tochter im Arm, strahlt in die Kamera. Auf einem anderen Foto ist ihr Mann mit dem gemeinsamen Kind zu sehen. Keiner von ihnen hat den 6. Februar 2022 überlebt.

Aber die kleine Ausstellung erzählt auch Geschichten vom Leben. Einem Leben zwischen Deutschland und der Türkei. Sie zeigt die Familie in den 1970ern beim Tanzen im deutschen Wohnzimmer und beim Urlaub am Mittelmeer. „Ich wollte, dass die Bilder auch in Deutschland zu sehen sind, das Land, in das meine Großeltern einst auswanderten, das sie mit aufbauten“, sagt Genç, der selbst vor mehr als vier Jahren aus der Türkei nach Deutschland gezogen ist.

Auch in Hatay gedenken die Menschen am Dienstag der Katastrophe. Bis heute ist die Region schwer gezeichnet. „Die Menschen leben teilweise immer noch in Zelten und es gibt immer wieder Nachbeben“, sagt Taylan Kurt von den Berliner Grünen. Bei einer zentralen Veranstaltung in Antakya wurde die Regierung ausgebuht. Viele sehen die politische Elite als verantwortlich für das Ausmaß der Katastrophe. Der Wiederaufbau geht bisher nur schleppend voran.

„Antakya gibt es nicht mehr. Aber die Menschen gibt es noch“, sagt die Ersthelferin Yonca Makowsky. Jetzt komme es darauf an, diese Menschen nicht zu vergessen. Das Theater 28 plant deshalb schon weitere Veranstaltungen und Konzerte, um Spenden für die Region zu sammeln. Sie sind sich sicher, dass die türkische Gemeinde in Berlin ihre Verwandten und Freunde nicht im Stich lassen wird.

Zur Startseite

  • Mitte
  • Steglitz-Zehlendorf

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de