„Mädchen und Instutionen“: Darja Serenko erzählt vom russischen Staatsapparat – und dessen alltäglicher Gewalt

„Mädchen und Instutionen“: Darja Serenko erzählt vom russischen Staatsapparat – und dessen alltäglicher Gewalt

© Sergey Leschina/wikipedia

„Mädchen und Instutionen“: Darja Serenko erzählt vom russischen Staatsapparat – und dessen alltäglicher Gewalt

Prosafetzen, Notizen, Gedichte: Die Aktivistin versucht, dem Autoritarismus ein literarisches Gesicht zu geben.

Von Amelie Sittenauer

Mädchen, das sind hier junge und ältere Russinnen, die in schlecht bezahlten Jobs für die nationalen Kulturinstitutionen arbeiten. Ein Mädchen zu sein bedeutet, eine Rolle im patriarchalen russischen Staatstheater zu spielen. Über Jahre hat die Moskauer Literatin und feministische Aktivistin Darja Serenko Anekdoten aus den Maschinenräumen dieser Institutionen zusammengetragen.

Auf den ersten 70 Seiten von „Mädchen und Institutionen“ berichtet sie von Repressalien, Machtmissbrauch und Überwachung: „Vor einem halben Jahr hatte man eine kleine Kamera im Büro installiert. Einmal im Monat kam ein unscheinbarer stiller Typ, machte etwas mit der Kamera und ging wieder, ohne Fragen zu beantworten. Die Kamera wurde zu einem weiteren Mädchen – wir behandelten sie wie eine lebendige, nicht sehr sympathische Kollegin, in deren Gegenwart man gewisse Dinge besser nicht sagte.“

Als hätte das eigene jahrelange Lavieren in jenen Institutionen die 1993 in Chabarowsk geborene Autorin gelehrt, ihre Kritik geschickt zu verpacken, bleibt der Ton humorvoll-lakonisch. In bewusst absurder Erzählweise dokumentiert sie die kleinen Gesten der Verweigerung, imaginiert Wutbriefe an das Regime und platziert den Menstruationskalender der Mädchen neben dem Kalender mit wichtigen russischen Daten. Serenko gibt den Staatsapparat der Lächerlichkeit preis.

Mittäter:innenschaft steht der eigenen Unterdrückung gegenüber: „Am 9. Mai war es in der Galerie heiß und leer. Als Kinder in Militäruniform an unseren Fenstern vorbeiliefen, haben wir geschwiegen – wir waren ja keine Kinder in Uniform. Als Panzer an unseren Fenstern vorbeifuhren, haben wir geschwiegen – wir waren ja keine Panzer. Als Geschosse an unseren Fenstern vorbeiflogen, haben wir geschwiegen – wir waren ja keine Geschosse.“

Die Solidarität der Mädchen untereinander hat nichts Romantisierendes. Ausdrücklich möchte Serenko die Mythologie weiblicher Kollektivität „heterogener, widersprüchlicher und ambivalenter machen“.

2021 erschienen diese Seiten von „Mädchen und Institutionen“ bereits als Heft in Moskau, kurz bevor Serenko des „Extremismus“ angeklagt wurde. Im Februar 2022, wenige Tage vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, kam sie für 15 Tage als politische Gefangene in eine Moskauer Justizvollzugsanstalt.

Damit verändert sich im zweiten Teil der Kontext. Mädchen sind Gefangene, und die Institution ist kein Museum mehr, sondern ein Gefängnis. Der zweite Text trägt den Titel „Ich wünsche Asche meinem Haus“. Die trockene Distanz ist verschwunden, Serenko schreibt nun nüchtern und eindringlich.

Ihre Geschichten sind auch Zeitzeugenberichte. So schreibt sie sich hinein in die Reihe russischer Gefängnisliteratur wie jene von Jewgenia Ginsburgs autobiografischen Texten bis zu Kira Jarmyschs Roman „Dafuq“.

In flackernden Prosafetzen, Notizen und Gedichten breitet sie ihre Gedanken aus. Einmal listet sie politische Suizide auf, einmal liest man ein Gedicht auf Putins Tod. Immer wieder geht es um den inneren Konflikt mit ihrer Heimat. „Ich schreibe ewig an diesem Text, um nicht wegzumüssen, ich gehe nicht zum Arzt, lieber verfaule ich bei lebendigem Leib in der Heimaterde, sage ich. Was soll der Scheiß, sage ich. Führst hier eine Tragödie auf, sage ich. Dein Zuhause ist da, wo du am Leben bist, sage ich. Ich bin Patriotin, sage ich. Ich fürchte mich, sage ich.“ Schließlich geht Darja Serenko ins Exil nach Georgien. „Mädchen & Institutionen“ beschreibt, was sie zurücklässt.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de