Die Lage düster, die Reformkraft weg: Olaf Scholz kann jetzt Führung beweisen – und die Vertrauensfrage stellen

Die Lage düster, die Reformkraft weg: Olaf Scholz kann jetzt Führung beweisen – und die Vertrauensfrage stellen

© AFP/STEFANIE LOOS

Die Lage düster, die Reformkraft weg: Olaf Scholz kann jetzt Führung beweisen – und die Vertrauensfrage stellen

Die Regierung selbst warnt, dass Deutschland abgehängt wird. Reformen sind aber ausgeschlossen. Die Konsequenz: Der Bundeskanzler muss selbst Vorschläge machen – und Neuwahlen in Kauf nehmen.

Ein Kommentar von

Christian Lindner und Robert Habeck eint weltanschaulich ähnlich viel, wie die Porschefahrerin aus Sylt mit dem Freiburger Liegeradenthusiasten. Umso bemerkenswerter ist ihr gleichermaßen pessimistischer Blick auf die Lage der Nation: Deutschland sei „nicht mehr wettbewerbsfähig“. Das erklären Wirtschafts- und Finanzminister fast unisono.

Bitte, wie? Abgehängt im internationalen Wettbewerb? Verlierernation? Derart Apokalyptisches hört man normalerweise von der Opposition. Aus dem Mund von zwei der drei Spitzen der Regierungskoalition erscheint diese Analyse durchaus dramatisch.

Die Rezession könnte sich 2024 fortsetzen. Deutsche Unternehmen investieren lieber im Ausland. Das verfügbare Einkommen der Menschen sinkt. An Brücken, Schulen und Bahnen nagt die Zeit. Für notwendige Investitionen fehlt das Geld.

Die Teuerung frisst Rekorde auf

Die angeblichen „Rekordsteuereinnahmen“ und „Rekordinvestitionen“ sind angesichts der Teuerung ein schönes Märchen. Während sich der große Rest der Welt also längst von den Schocks durch Krieg und Pandemie erholt, schreibt der „Economist“ über Deutschland wieder als „kranken Mann Europas“.

Das letzte Mal, als das geschah – im Jahr 2003 – entwickelte Gerhard Schröder die Agenda 2010. Eine umfassende Wirtschafts- und Sozialreform. Man muss kein Verteidiger der Details dieser Reform sein, um auch heute Handlungsbedarf zu erkennen. Zu solchen Maßnahmen fehlt der Regierung Scholz aber die Kraft und die Konsequenz. Das wirft die Frage auf, ob dieser Schrecken nicht besser bald endet.

Die Regierung wirkt desillusioniert

Im Kanzleramt findet sich im verbleibenden Arbeitsprogramm wenig Tiefgreifendes zur Wirtschaftspolitik. Finanzminister Lindner bezeichnet das öffentlich als: realistisch. Der Bundeskanzler verweist wenigstens noch auf das zum Reförmchen geschrumpfte Wachstumschancengesetz. Habeck fordert stattdessen das Fünfzigfache an Investitionsvolumen und weiß natürlich, dass das mit der FDP nicht gehen wird. Eine gemeinsame Linie ist nicht erkennbar – wie so oft. Die Regierung selbst ist nicht mehr wettbewerbsfähig.

Zugleich zieht und zerrt die FDP in ihrem Überlebenskampf an der Koalition. In den vergangenen Tagen sprengten die Liberalen zwei ausverhandelte Gesetzespakete in Europa. Deutschland ist blamiert vor seinen Partnern.

Die FDP provoziert den Exit aus der Koalition – warum geht sie nicht?

Die Liberalen mögen aus ihrer Sicht berechtigte Kritik daran haben, aber seriöses Regieren ist so kaum möglich. Wenn Justizminister Marco Buschmann nun auch noch von Habeck handschriftlich mehr Bürokratieabbau fordert, kommt die Frage auf, ob die Liberalen ihre Partner so weit reizen wollen, bis andere sie aus diesem Bündnis in die viel zitierte „Freiheit“ entlassen. Ihnen selbst fehlt dafür offenbar der Mut.

Dem Bundeskanzler bleibt noch ein Mittel: Scholz kann selbst eine Wirtschaftsagenda vorschlagen und die Vertrauensfrage stellen. Er kann die Koalitionspartner öffentlich dazu bewegen, sich zur gemeinsamen Arbeit zu bekennen – oder eben nicht. 

Julius Betschka, Chefreporter im Hauptstadtbüro

Dem Kanzler selbst mangelt es bislang an Kraft, die drei unterschiedlichen Partner irgendwie auf einen Kurs zu bringen. Dafür, einmal mächtig auf den Tisch zu donnern, wie es so oft gefordert wird, ist es zu spät. Scholz’ Richtlinienkompetenz gilt ohnehin nur eingeschränkt.

Scholz bleibt ein letztes Mittel: die Vertrauensfrage

Dem Bundeskanzler bleibt ein letztes Mittel: Scholz kann selbst eine Wirtschaftsagenda vorschlagen und die Vertrauensfrage stellen. Er kann die Koalitionspartner öffentlich dazu bewegen, sich zur gemeinsamen Arbeit zu bekennen – oder eben nicht. Schröder hat das zweimal getan.

Scholz’ Stil ist das nicht. Aber es wäre die Führung, die ihm laut Umfragen immer weniger Menschen im Land zutrauen. Es ist Zeit.

Eine Vertrauensfrage könnte auch die Union in die Verantwortung zwingen: Tritt die Regierung zurück, könnte Scholz mit der Union bis zur Wahl in einer Art Deutschlandbündnis weiterregieren. Eine Parlamentsmehrheit dafür gibt es. Die Union hat daran freilich wenig Interesse (und schießt auch deshalb so scharf gegen Scholz).

Ausschließen kann man aber nicht, dass sich das staatspolitische Verantwortungsgefühl im konservativen Lager letztlich durchsetzt – und die Union mit Sozialreformen und dem Wahlrecht geködert werden kann.

Nach einer Neuwahl könnten entscheidende Blockaden gelöst werden

Möglich wäre auch eine Neuwahl. Als größtes Argument für das eigene Fortbestehen gilt manchem in der Regierung inzwischen das potenzielle Erstarken von Extremisten und die Segregation des Parteiensystems nach einer solchen Abstimmung. Gegenfrage: Werden die Ergebnisse einer baldigen Neuwahl wirklich komplizierter als nach einer regulären Bundestagswahl 2025? Würden nicht die Ampel-Parteien selbst profitieren, ehe sie aneinander komplett ausbrennen?

Sobald die Konservativen mitregieren, kann das politische Patt um die Schuldenbremse gelöst werden. Das würde politische Mehrheiten für dringend notwendige Investitionen ermöglichen. Signale dafür gibt es bei den Konservativen.

Julius Betschka

Für das Land könnte die Wahl entscheidende Blockaden lösen. Die Folge wäre wohl eine von der Union angeführte Koalition. Sobald die Konservativen mitregieren, kann das politische Patt um die Schuldenbremse gelöst werden. Das würde politische Mehrheiten für dringend notwendige Investitionen ermöglichen. Signale dafür gibt es bei den Konservativen.

In der Migrationsfrage stünde ein Bündnis mit der Union glaubwürdiger dafür, die Zahl der Flüchtlinge deutlich zu reduzieren. Die Ampel hat zwar Richtiges auf den Weg gebracht, aber zu widersprüchlich klingen die politischen Signale der drei Parteien. Hinzu kommt: Die Mehrheit in Deutschland tickt inzwischen rechts der Mitte. Eine Regierungsbeteiligung der Union könnte die Gesellschaft stabilisieren.

Ist das alles ein politisches Risiko? Natürlich. Aber wer als Regierungsverantwortlicher vom Abstieg einer Nation spricht, muss sich glaubhaft auf die Suche nach einem Gegenmittel machen. Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, muss von der Verantwortung für ein Land zurücktreten.

In ihrer jetzigen Verfassung ist die Ampel-Regierung vor allem eines: ein Wachstumschancengesetz für politischen Extremismus.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de